Frankfurt Seit zehn Jahren feiert Emily Whitehead zweimal im Jahr Geburtstag. Einmal den Jahrestag ihrer Geburt und einmal, weil sie ein weiteres Jahr krebsfrei ist. Gerettet hat die junge Amerikanerin die sogenannte CAR-T-Therapie. Bei der werden die Immunzellen des Patienten so umprogrammiert, dass sie die aggressiven Blutkrebszellen erfolgreich bekämpfen.
Das Verfahren ist ein Meilenstein der Medizingeschichte. Die CAR-T-Therapie des Schweizer Pharmakonzerns Novartis wurde 2017 erstmals in den USA zugelassen. Mittlerweile verdanken unzählige zuvor unheilbar erkrankte Blutkrebspatienten innovativen Zelltherapien ihr Leben.
Aber es könnten noch viele Menschenleben mehr sein. Therapien wie die für Emily Whitehead werden noch zum großen Teil aufwendig im Reinraum hergestellt. Das ist zeitaufwendig und macht sie teuer – die Kosten liegen bei mehr als einer Viertelmillion Euro.
Wird die Car-T-Zell-Therapie durch mRNA-Technologie günstiger?
Ein größerer Einsatz solcher Therapien würde nicht nur die Gesundheitssysteme finanziell überlasten, es ist rein technisch kaum möglich. „Mit diesem rasanten biomedizinischen Fortschritt hat die Entwicklung von benötigten Produktionstechnologien bisher nicht Schritt gehalten“, sagt Ulrike Köhl, Institutsleiterin des Fraunhofer-Instituts IZI, das einige Zeit für Novartis die CAR-T-Therapie Kymriah hergestellt hat.
Das RNAuto-Projekt soll das ändern: Sieben Fraunhofer-Institute entwickeln ein Verfahren auf Basis der mRNA-Technologie, die durch die Corona-Impfstoffe bekannt wurde. Die mRNA-Technologie wird bereits seit Jahrzehnten in der Krebsmedizin erforscht, auch Entwicklungspionier Biontech hat hier seine Wurzeln. Diese „MessengerRNA“ ist ein Botenstoff, der die genetische Information, den Bauplan für ein Protein, in sich trägt. Und so Zellen umprogrammieren kann.
Am Ende soll eine automatisierte, aus vielen Modulen bestehende Produktionstechnologie stehen, die die Kosten um 90 Prozent senken kann – und Therapien statt in vier bis sechs Wochen in wenigen Tagen herstellen.
„Meiner Ansicht nach hat das Leitprojekt RNAuto wirklich großes Potenzial, die individualisierten Therapien entscheidend voranzubringen“, sagt Lutz Uharek, Experte für Zell- und Gentherapien und Gründer des Biotech-Start-ups Xencura.
Car-T-Zell-Therapie: Ein Milliardenmarkt für Gentherapien entsteht
Weltweit sind derzeit sechs CAR-T-Therapien zugelassen, Hunderte befinden sich in der Erforschung. Der Bedarf ist groß: Jedes Jahr erkranken mehr als 917.000 Menschen weltweit allein an Blutkrebs. Und auch jenseits der Onkologie werden immer mehr neuartige Gen- und Zelltherapien gegen Infektionskrankheiten, Erbkrankheiten oder auch Autoimmunerkrankungen entwickelt.
Die Zulassungsbehörden FDA und EMA erwarten, dass ab 2025 jedes Jahr mehr als zehn solcher innovativen Therapien auf den Markt kommen, die in der Branche ATMP (Advanced Therapy Medicinal Products) genannt werden.
Der Markt steht noch ganz am Anfang. Nach Schätzungen der Marktforscher der Business Research Company soll sich der Umsatz für Gen- und Zelltherapien von knapp 8,6 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr auf mehr als 26 Milliarden Dollar im Jahr 2027 verdreifachen. Und danach weiter deutlich zweistellig wachsen.
Vermutlich ist die Schätzung noch konservativ, denn laut Branchenverband Alliance for Regenerative Medicine gibt es derzeit weltweit 2220 klinische Studien zu den neuartigen Therapien. Davon 43 Prozent in den USA, 38 Prozent im asiatisch-pazifischen Raum und 18 Prozent in Europa.
Car-T-Zell-Therapie: Schneller, preiswerter, sicherer
Bei der CAR-T-Therapie wird in die Immunzellen (T-Zellen) ein inaktives Virus eingeschleust, dessen Erbsubstanz um ein spezielles Gen erweitert wurde. Mithilfe des präparierten Gens produzieren die Zellen ein Eiweiß, den sogenannten CAR (chimären Antigenrezeptor). Der wird zu so etwas wie einer Antenne auf der Oberfläche der Zelle und sorgt dafür, dass die nun gebauten CAR-T-Zellen die Krebszellen des Patienten erkennen und nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip binden.
Im Fraunhofer-Projekt soll der Gentransfer statt per Virus mit mRNA vorgenommen werden. Die Idee ist, mithilfe von mRNA Immunzellen so umzuprogrammieren, dass sie beispielsweise Krebszellen vernichten. „Weil die mRNA-Technologie sehr flexibel ist, können die Wirkstoffe vergleichsweise schnell an ein neues Ziel angepasst und produziert werden“, sagt Köhl.
Für den nicht-viralen Gentransfer spreche vor allem eine deutlich höhere Patientensicherheit, bewertet Andreas Herrmann, Inhaber des Lehrstuhls für Makromolekulare Materialien und Systeme an der RWTH Aachen, den Ansatz: „Bei mRNA besteht nicht die Gefahr, dass sich DNA in das Genom der Zellen des Patienten integriert. Das kann dagegen beim viralen Gentransfer durchaus vorkommen.“
Und mRNA hat weitere Vorteile: Sie kann günstiger und schneller hergestellt werden. Neben den mRNA-induzierten Therapeutika will Fraunhofer in einem zweiten Projekt ein Produktionsverfahren zur Herstellung eines mRNA-basierten Impfstoffs gegen das West-Nil-Virus entwickeln.
Die Einzelteile zusammenbinden
Das auf vier Jahre angelegte Leitprojekt wird von der Immun-Onkologin Köhl geleitet. Die verschiedenen Fraunhofer-Institute bündeln ihre Kompetenzen aus Impfstoffentwicklung, Zell- und Gentherapie, Bioprozessentwicklung, smarter Sensorik sowie Automatisierung und Digitalisierung von Produktionsverfahren.
Die breite Kompetenz ist nötig. Im Reinraum ist die Gefahr von Kontamination hoch, jedes Herstellungsverfahren muss höchsten Ansprüchen genügen. Und kommt bisher praktisch aus Werkstätten, nicht Fabriken: „Wir wollen sozusagen die Arbeit und das Know-how des Pharmazeuten, der den Prozess bisher von Hand gemacht hat, in einen automatisierten Prozess bringen“, sagt Peter Liggesmeyer, Institutsleiter des Fraunhofer IESE in Kaiserslautern.
Zwar gibt es bereits Geräte von Unternehmen wie der Schweizer Lonza oder der deutschen Biotechfirma Miltenyi, die im Reinraum die Zelltrennung, die Zellkultivierung und auch die Zellformulierung (also die Umprogrammierung der T-Zelle zur CAR-T) bis hin zum fertigen Produkt übernehmen. Aber der Übergang von einem Produktionsschritt zum anderen erfolgt noch manuell.
Zudem ist die Qualitätskontrolle, die einen großen Teil des Prozesses ausmacht, bisher nur wenig automatisiert. „Hier brauchen wir einen digital gesteuerten Monitoring-Prozess, der möglichst ohne Eingriff des Menschen funktioniert“, sagt Köhl. Untersucht werden muss, wie gut die Killerzellen umprogrammiert wurden, wie gut sie sich vermehren und ob sie die Krebszellen auch zerstören.
„Da entstehen ganz neue Player“
Das Vorgehen beim Projekt RNAuto hält Uharek für richtungsweisend. Der Unternehmer hat am Berliner Universitätsklinikum Charité die Herstellung individualisierter Zelltherapeutika aufgebaut. Vor zwei Jahren hat er seine eigene Firma Xencura gegründet, die eine digital gesteuerte Plattform für die Herstellung von Gen- und Zelltherapien bietet, ebenfalls individualisiert.
Es sei wichtig, dass verschiedene Disziplinen zusammengebracht werden, damit künftig mehr Unternehmen den gesamten Prozess für die Produktion solcher Therapien in einem abbilden können, sagt der Onkologe.
In den USA gebe es beispielsweise immer mehr Behandlungszentren, die sich auf die Herstellung individueller Gen- und Zelltherapien spezialisieren, berichtet Uharek. „Da entstehen ganz neue Player, die für die Pharmaindustrie auch in gewissem Sinne eine Konkurrenz sind.“
Die Pharmabranche ist allerdings auch nicht untätig: Novartis hat in den USA, Frankreich und der Schweiz Produktionen für seine Gen- und Zelltherapien aufgebaut. Und Biontech - das Unternehmen setzt schon seit ein paar Jahren auf die Unterstützung von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Arzneimittelentwicklung - erwarb im Januar dieses Jahres seinen Kooperationspartner Instadeep aus Großbritannien. Das Technologieunternehmen ist auf KI und maschinelles Lernen spezialisiert.
Biontech will diese Technologien unternehmensweit einsetzen, um im großen Maßstab Kapazitäten in der KI-gesteuerten Arzneimittelforschung und der Entwicklung von Immuntherapien und Impfstoffen der nächsten Generation aufzubauen.
Erste Gespräche mit Unternehmen
Für die automatisierte Produktion ist im Leitprojekt RNAuto das Fraunhofer-Institut IESE aus Kaiserslautern zuständig. Das Institut hat in einem früheren Konsortialprojekt mit Industriepartnern eine virtuelle Middleware namens BaSyS4 für Anwendungen aus dem Bereich Industrie 4.0, also der vernetzten Fabrik, entwickelt. Die Softwareplattform steuert digital und mithilfe von KI die Produktion. „Dieses System ist in der Lage, Produktionsabläufe automatisiert zu planen und auch umzuplanen, also etwa, wenn eine Maschine ausgefallen ist“, sagt Liggesmeyer.
Es sollen auch digitale Zwillinge zum Einsatz kommen, mit denen die Herstellung und Qualitätskontrolle virtualisiert werden kann. Fraunhofer will die im Rahmen des Projekts entwickelten Module, Softwarepakete und Produktionsverfahren über Verfahrenspatente der Industrie zugänglich machen.
Da man mit Modulen verschiedener Größe arbeite, seien sie sowohl für die großen Pharmakonzerne als auch für kleinere Biotechunternehmen interessant sowie für die Forschung an Universitäten, sagt Liggesmeyer: „Wir führen bereits erste Gespräche mit der Industrie.“
Car-T-Zell-Therapie: Preiswerter, aber immer noch teuer
Molekularexperte Andreas Herrmann von der Universität Aachen hält die Anwendungen des Leitprojekts vor allem für kleinere Biotechfirmen interessant. „Sie hätten dann die Chance, sich weiter auf ihre medizinische Kernkompetenz zu konzentrieren, und können das Thema Produktion Fraunhofer überlassen. Und später dann vielleicht die Technologie einlizenzieren“, sagt er.
Liggesmeyer führt derweil einen entscheidenden Faktor an: „Unsere Modellrechnungen haben gezeigt, dass mittelfristig der Preis für solche innovative Therapien auf ein Zehntel und weniger reduziert werden könnte.“ Damit würde das Projekt bei Krebstherapeutika in etwa das Preisniveau konventioneller Therapien erreichen, erklärt der Professor.
Damit würden die neuartigen Zelltherapien künftig einen fünf- statt sechsstelligen Betrag kosten: Klassische Chemotherapien liegen derzeit bei bis zu 20.000 Euro, Krebsimmuntherapien kosten mindestens 80.000 Euro. Das ist immer noch viel Geld für eine CAR-T-Therapie – aber weit näher an medizinischer Praxis.
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