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Auf dem Weg in agile Pflegestrukturen

27.01.2023
Der Fachkräftemangel in der Pflege fordert innovative Lösungsansätze. Es geht darum, das richtige Mindset zu etablieren und Mitarbeitende als gleichberechtigte Partner zu sehen. Um agil zu arbeiten, muss ein Team beweglich und flexibel sein, flache Hierarchien haben und jeden Mitarbeitenden einbeziehen.

Es ist 9.30 Uhr in der Neurologie 6, Kopfklinik am Universitätsklinikum Heidelberg. Alle sind da: leitender Oberarzt, Stationsärzte, Seelsorger, Pflegekräfte, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Auszubildende – alle Professionen versammeln sich jeden Morgen im Stationszimmer. Es wird eng, aber alle wissen: Wer zu spät kommt, hat Pech. Das ist der festgelegte Zeitpunkt für die tägliche Regel kommunikation. „Pünktlichkeit ist hier von Anfang an eine Frage des Respekts den anderen gegenüber“, erklärt Stationsleiter Robin Krüger, der die Station von Anfang an betreut und mit aufgebaut hat. „Auch der leitende Oberarzt ist bei uns um 9.30 Uhr vor Ort.“ Dann werden alle patientenrelevanten Themen komprimiert in maximal 30 Minuten besprochen, die diesen Tag anliegen. „Allein dadurch verschaffen wir den einzelnen Professionen mehr Zeit für die Arbeit am und mit dem Patienten. Und es geht weniger Information verloren auf dem Weg von der Pflege über den Arzt bis hin zum Therapeuten oder Seelsorger“, weiß der gelernte Gesundheits und Krankenpfleger zu berichten. Es könne gleich nachgefragt werden, wenn etwas unklar sei, und jeder kenne seine Aufgaben für diesen Tag.

Das Team schaut aber auch täglich kurz zurück, was nicht so gut lief und wo es Verbesserungsbedarfe gibt. Damit ein agiles Arbeiten interprofessionell gut funktioniert, sind die Wege auf der neu gegründeten Station mit dem bezeichnenden Namen „Innovationsraum Pflege“ kurz. Das Arztzimmer liegt neben dem Stationszimmer der Pflege. So kann schnell und auf dem kleinen Dienstweg geklärt werden, was zu tun ist – direkt vor Ort. „Das ist ein unglaublicher Vorteil, den wir hier dadurch haben, dass wir die Station neu gegründet haben und auch diese bauliche Neuerung auf unserer Station direkt umsetzen konnten“, führt Projektinitiator Krüger aus.

Projekt „Innovationsraum Pflege“

Am Universitätsklinikum Heidelberg hat man sich auf den Weg gemacht, Arbeitsprozesse stärker am Patienten auszurichten, die Hierarchien abzubauen und flexible Arbeitszeitmodelle zu schaffen. Die Idee des Innovationsraums Pflege war geboren. Anfänglich arbeiteten elf Pflegefachpersonen auf der neu gegründeten Station der Neurologie 6 mit acht Betten. Mittlerweile sind es 16 Betten und 19 Pflegefachpersonen, drei Stations- und zwei Oberärzte. Pflegedirektor Edgar Reisch ist von Anfang an begeistert von der Idee und sagte damals zur Eröffnung 2020: „Eine Station unter pflegerischer Leitung schafft den geeigneten Raum, um Innovationen unkompliziert in den Pflegealltag zu integrieren, zu erproben und wissenschaftlich auszuwerten.“ Eine Advanced-Nurse-Practitionerin arbeitet als fachliche Leitung auf der Station und unterstützt das multiprofessionelle Team ebenso wie Therapeutinnen und andere Dienstleistende im Akutkrankenhaus. Zudem dient die Station auch dazu, Praktikanten, Auszubildenden und Studierende anzulernen. Patienten mit seltenen neurodegenerativen Erkrankungen werden hier betreut. Die Mitarbeitenden haben den kreativen Freiraum, sich mit innovativen Ideen auseinanderzusetzen und sie im Stationsalltag umzusetzen.

Ein weiterer wichtiger Baustein, um agile Pflege zu fördern, ist das LeanManagementKonzept. „Bei uns im Haus wird Lean Management großgeschrieben, und wir haben uns schon früh auf den Weg gemacht, den Beschäftigten in Medizin und Pflege mehr Zeit für die Behandlung und Pflege zu ermöglichen. In unserer Abteilung kann jedes Teammitglied Projekte anstoßen, bearbeiten und umsetzen“, stellt Krüger noch eine Besonderheit des Heidelberger Pilotprojektes vor.

Ein Schlüssel für ein agiles Krankenhaus ist also, patientenzentriert und offen zu kommunizieren. Agile Pflege bedeutet aber auch, dass die Profession mehr Verantwortung übernimmt und sich zum Beispiel selbst organisieren darf. Auch hier ist die Station von Robin Krüger ein Vorbild. „Ein wichtiges, großes organisationsstrukturelles Projekt war und ist die autonome Dienstplangestaltung“, berichtet der Stationsleiter. Was bislang nur für die Pflegekräfte der SpringerPools möglich war, soll aufgrund eines stationsinternen Projektes künftig auch für den Innovationsraum Pflege gelten. Die Pflegefachpersonen schreiben ihre Dienstpläne selbst, ganz individuell und eigenverantwortlich. Eine Maßnahme, die auch die Mitarbeiterzufriedenheit erhöht, weiß Krüger. „Und sind die Mitarbeiter zufrieden, kommt das wieder den Patienten zugute.“

New Work in der Pflege

Was für die einen New Work oder Innovation, ist für andere längst bereits Wirklichkeit. In der Altenpflege gibt es diese Ansätze schon vermehrt – gerade im europäischen Kontext. Buurtzorg sei hier als ein Beispiel für selbst organisierte Pflege genannt, das auf flachen, transparenten und selbstorganisierten Strukturen basiert.

Buurtzorg

Buurtzorg ist das niederländische Wort für Nachbarschaftspflege. Dahinter verbirgt sich ein Unternehmen der ambulanten Pflege aus Holland, das auf Selbstorganisation basiert und mit ausschließlich autark organisierten Pflegeteams arbeitet. Jos de Blok hat Buurtzorg 2007 in den Niederlanden gegründet. Dabei werden Eigenverantwortlichkeit und Entscheidungskompetenz der Pflegenden gefördert, die Patienten und ihre Angehörigen werden aktiv mit einbezogen. Das Mehr an Mitsprache und Verantwortung seitens der Pflegekräfte zieht bei der Berufsgruppe. In Holland gehört Buurtzorg zu den beliebtesten Arbeitgebern und ist mittlerweile der größte mobile Pflegedienstanbieter. Über 15000 Mitarbeitende entscheiden – ohne Personalmanagement, Marketing und Finanzchef – über ihre Arbeitsabläufe, Dienstpläne, Einstellungen und Fortbildungen selbst.

Aber zurück nach Deutschland: New Work – ein Modewort, das einem derzeit überall begegnet. Doch was heißt das eigentlich? Es beschreibt in erster Linie den Arbeitsplatz der Zukunft – bei den meisten Berufen mit dem Fokus auf hybrider und mobiler Zusammenarbeit. Das ist in der Pflege nur bedingt möglich. Dennoch gibt es auch bezüglich dieser Profession Überlegungen, wie die Pflege der Zukunft aussehen kann oder soll. Denn der Wandel macht auch vor der Pflege nicht Halt. Neue Gesundheitskonzerne drängen auf den Markt, Lauterbach‘sche Regularien müssen umgesetzt werden und medizinisch technologische Innovationen können vieles erleichtern. Einiges bedarf politischer Rahmenbedingungen, anderes können Kliniken und Einrichtungen selbst auf den Weg bringen. Nämlich, wie sie sich wandeln müssen, um zum einen schnell auf neue Marktbedingungen bzw. interne Veränderungen zu reagieren, sich aber andererseits auch als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren – so wie die Kopfklinik in Heidelberg. Dazu gehört neben einem entsprechenden Mindset, früher Leitbild genannt, auch ein Umdenken im Unternehmen.

Für die Profession Pflege ist es jedoch vielleicht besser, von „agiler Pflege“ zu sprechen, als von New Work. Denn es geht vor allem um eine andere Form der Zusammenarbeit, die sich nicht mehr an der komplexen Führungsstruktur in Kliniken und der polarisierten Rollenverteilung orientiert: weg von der alten hierarchischen Verantwortung und Entscheidungsgewalt hin zu mehr Selbstorganisation in den Teams. Dass sich vermehrt Häuser auf den Weg Richtung agile Pflege machen, ist nicht verwunderlich. Denn es hat sich herumgesprochen, dass neben der gesundheitsförderlichen Fachkräftesicherung auch ein Gemeinschaftsgefühl entsteht, das der gesamten Organisationsentwicklung zuträglich ist und die Pflegequalität erhöht werden kann.

Zudem macht eine agile Arbeitsweise die Klinik attraktiv und interessant für neue Mitarbeitende.

Dennoch sind die Hindernisse im Gesundheitsbereich scheinbar besonders groß, denn Krankenhausorganisation ist auch heute noch nahezu immun gegen Regeln, und es herrscht ein extremes Silo und Konkurrenzdenken – zwischen den Professionen und auch zwischen den Stationen bzw. Bereichen. Bislang brauchte es keine Agilität in den Krankenhäusern, denn es wurde zentralisiert, privatisiert, outgesourct etc. Die Aufgabe des Krankenhausmanagements wird in den kommenden Jahren jedoch sein, die innersten Prozesse zu verbessern – und dazu braucht es Agilität.

Gelassenheit, Gesundheit, Gemeinschaft

Dass Agilität nur mit Haltung funktioniert, weiß Karin Probst, zertifizierter Business Coach und Scrum Master, die schon vielen Kliniken auf ihrem Weg zum agilen Krankenhaus geholfen hat. „Ich werde meist gerufen, wenn eine enorme Mitarbeiterunzufriedenheit herrscht“, erklärt sie. Das mache sich daran bemerkbar, dass es zu vermehrten Teamkonflikten komme oder typische Überlastungsfehler passieren, wie dass Mitarbeiter beispielsweise ein Medikament vertauschen oder ein Auto anfahren, weil der Fahrer im Dauerstress gegen die Uhr arbeitet. Die Beweggründe, auf ein agiles Management umzusteigen sind einleuchtend, doch was heißt das im Pflegealltag?

Probst erklärt, dass dazu „ein täglicher, disziplinierter Austausch am sogenannten KanbanBoard gehört, das die Arbeitsschritte visualisiert“. Jeder Mitarbeiter hat zugewiesene Aufgaben, es gibt klare Strukturen und kontrollierbare Arbeitsschritte. Das haben alle mit der täglichen Besprechung im Blick. „Sicherlich treten gerade in der Anfangsphase mehr Fehler zutage. Auch dadurch, dass die Mitarbeitenden motiviert werden, Fehler in der Runde anzusprechen“, erklärt Probst. Die gesteckten Ziele seien aber klein und überschaubar. „Daher stellen sich auch sehr schnell Erfolgserlebnisse ein, die gefeiert werden“, berichtet sie weiter.

Kern von Agilität

  • Agilität setzt auf kleine, eigenverantwortliche und interdisziplinäre Teams.
  • Diese Teams agieren kunden- bzw. patientennah. Sie dürfen mehr entscheiden, weil sie es auch später umsetzen werden. Die Mitarbeitenden werden aktiv in die Entscheidungen einbezogen.
  • Agilität setzt in der Praxis auf kleine Veränderungsschritte in überschaubarem Zeitraum, die zudem transparent für alle kommuniziert werden.
  • Agilität unterscheidet sich von der üblichen Krankenhausorganisation. Jetzt heißt es: transparent kommunizieren, gemeinsam entscheiden und zusammenarbeiten, kleine Schritte ausprobieren, korrigieren und gemeinsame Erfolge schaffen und feiern. Und das Ganze interaktiv!
  • Agilität basiert auf kontinuierlichem Lernen und auf regelmäßigem, offenem Feedback.
  • Agilität erfordert von der Führungsebene, einen klaren Rahmen über Ziele, Wert und individuelle Entscheidungsräume zu geben.
  • Auch Agilität muss organisiert werden.

Neben der Wertschöpfung, dass sich beispielsweise durch eine stationsübergreifende Ordnung auch Lagerbestände reduzieren lassen und es zu weniger Müll und weniger Kosten aufgrund abgelaufener Lagerware kommt, erhöht sich durch flache Hierarchien auch die Qualität der Zusammenarbeit. „Das Team kann sich auf seine Kernaufgaben fokussieren, und so wird sowohl die Qualität der Pflege als auch die interprofessionelle Zusammenarbeit verbessert. Im Ergebnis fallen dann am Ende des Prozesses auch Arbeitsspitzen weg und es kommt zu gleichmäßigen Tagesroutinen“, führt die Coachin weiter aus. Das sei nicht ganz einfach, meistens sehe man den Wald aber vor lauter Bäumen nicht, „denn gerade die Pflege ist zu erschöpft von dem zu hohen Arbeitspensum“. Es werde seitens der Pflegekräfte oft kritisiert, dass es aufgrund der immensen Arbeitsdichte nicht mehr möglich ist, qualitativ hochwertig zu arbeiten. „Und das kränkt und demotiviert“, weiß Probst.

Neben den täglichen kurzen Terminen gibt es alle zwei bis drei Wochen übergeordnete größere Zusammenkünfte, bei denen dann die IT-Abteilung und beispielsweise die Geschäftsführung mit dabei ist – das ist auch in Heidelberg der Fall. „Gerade diese interdisziplinäre enge Zusammenarbeit ist wertvoll für die Mitarbeitenden sowie für die Patienten“, erklärt Krüger. Und auch Probst bestätigt, dass so „Entscheidungen immer dort getroffen werden, wo sie anfallen“. Lean Management und Digitalisierung seien zudem zwei Stützen, ohne die der Transformationsprozess nicht gehe. Probst berichtet von einem Haus, das sie bei dem Transformationsprozess zur agilen Klinik begleitet hat: Innerhalb von zwei Wochen konnten aufgrund von fester Struktur und standardisierter Arbeitsabläufe die täglich gelaufenen Kilometer der Pflegenden einer Station von 270 auf 150 Kilometer reduziert werden. Ein Benefit für die Mitarbeiter – ebenso wie ungestörte Pausenzeiten. Für die Klinik hat sich eine Kostenreduktion von 27 Prozent ergeben. Das digitale Patientenboard unterstützt den Heilungsprozess und macht den Patienten zur Führungskraft für seine eigene Gesundheit. Am Ende gewinnen alle Seiten.

Quelle: kma Klinik Management aktuell - kma online vom 27.01.2023