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Pharmaunternehmen kritisieren den Standort Deutschland

22-03-2023
Preisdruck, Bürokratie und verschlafene Digitalisierung: Bayer, Roche und Boehringer hadern mit dem deutschen Markt. Deutschland fällt im internationalen Wettbewerb zurück.

Düsseldorf Einst war Deutschland die Apotheke der Welt. Heute warnen Pharmamanager davor, dass das Land den Anschluss verliert. „Der internationale Standortwettbewerb ist hart. Wir sehen zunehmend attraktive Bedingungen in den USA und China, um Innovationen beziehungsweise Hightech-Unternehmen zu fördern“, sagt Bayer-Pharmachef Stefan Oelrich dem Handelsblatt. „Europa, vor allem Deutschland, verliert in diesem internationalen Wettbewerb an Boden.“

Schuld daran ist aus Sicht der Branche zum einen eine überbordende Bürokratie und eine schleppende Digitalisierung des Gesundheitssystems. In der EU drohen den Pharmafirmen bald Einschränkungen beim Patentschutz. Und in Forschung und Entwicklung zeigt sich bereits, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb immer weiter zurückfällt.

Führten die Pharmaunternehmen 2016 noch 641 klinisch veranlasste Studien hierzulande durch, so waren es 2021 nur noch 589. Deutschland rutschte so von Platz zwei auf Platz sechs in der Welt ab, zeigt eine Auswertung des Branchenverbands VFA. Das hat Folgen: Bayer hat bereits angekündigt, sich noch stärker auf die USA zu fokussieren: etwa mit Biotech-Kooperationen oder dem Bau eines neuen Forschungszentrums in Boston/Massachusetts.

Bayer, Roche und Co.: Pharmaunternehmen klagen über Einschränkungen

Ein Grund für den Ärger der Branche ist das im Herbst beschlossene Gesetz zur Stärkung der gesetzlichen Krankenkassen. Das bringt für die Pharmabranche höhere Zwangsrabatte und Einschränkungen bei der Preisfestsetzung für innovative Medikamente. Die Firmen sehen damit die Möglichkeit eingeschränkt, ihre Investitionen für die Entwicklung neuer Arzneien zu finanzieren.

„Uns wird hier mehr und mehr die Luft abgeschnitten“, klagt Hagen Pfundner, Deutschlandchef des Schweizer Pharmakonzerns Roche. Wer Investitionen in Forschung und Produktion gewährleisten wolle, sollte alles daran setzen, den Standort Deutschland zu stärken.

Roche zählt mit rund 18.000 Beschäftigten in Deutschland neben Boehringer IngelheimSanofi und Bayer zu den größten Produzenten der hiesigen Pharmaindustrie und ist auch einer der größten Investoren. In den vergangenen sechs Jahren hat Roche hierzulande insgesamt rund 3,2 Milliarden Euro in Produktionsanlagen, Technologien und die Standortentwicklung investiert.

Damit flossen rund 16 Prozent der Sachinvestitionen nach Deutschland, während Roche hierzulande nur fünf Prozent seiner Umsätze erzielt. Neue Investitionsprojekte in Deutschland werden laut Pfundner aber angesichts der politischen Weichenstellungen kritisch überprüft.

Pharmaunternehmen spüren höhere Kosten deutlich

Wie andere Wirtschaftszweige auch spürt die Pharmabranche die deutlich gestiegenen Energiepreise und höhere Kosten für Vorprodukte. Weil die Preise im Arzneimittelmarkt aber gedeckelt sind, können die Unternehmen ihre Kostensteigerungen nicht direkt weitergeben.

Ungeachtet dessen muss die Branche in diesem Jahr laut dem Verband der Forschenden Pharmahersteller (VFA) den größten Anteil der Sparbeiträge tragen, die mit dem Gesetz zur Stärkung der gesetzlichen Krankenkassen erzielt werden sollen.

3,7 Milliarden Euro entfallen danach auf die Pharmabranche, wenn man das verlängerte Preismoratorium, also eine zeitlich begrenzte Preisbindung mitrechnet. Das sind 83 Prozent vom gesamten Betrag, den die Leistungserbringer der Gesundheitsbranche einsparen müssen.

„Deutschland sendet mit seiner Politik ein fatales Signal an die globale Branche: Forscht und investiert woanders“, sagte VFA-Präsident Han Steutel, am Mittwoch auf der Pharmatagung des Handelsblatts. Dabei sei Deutschland auch angesichts der demografischen Unwucht mehr denn je auf Schlüsselbranchen wie Pharma angewiesen.

Auch die hohen bürokratischen Auflagen und schleppende Genehmigungsprozesse stören die Branche. Mit 54 Ethikkommissionen und 17 Datenschutzbehörden sei es nicht verwunderlich, dass Deutschland „immer weiter abrutscht und uns andere Länder überholen“, sagt Marco Penske, Leiter Marktzugang und Gesundheitspolitik bei Boehringer Ingelheim in Deutschland. Das sei hausgemacht. Das Unternehmen investiert in Deutschland fast die Hälfte seiner Forschungs- und Entwicklungsausgaben.

Bayer und Co. sind wichtig für Deutschland

Für den Wirtschaftsstandort Deutschland steht einiges auf dem Spiel. Zwar ist die Pharmabranche mit einem Produktionswert von rund 55 Milliarden Euro deutlich kleiner als die Automobilindustrie, wie Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen. Dennoch sind die Pharmafirmen ein wichtiger Investor in Deutschland: Bezogen auf die Bruttowertschöpfung reicht die Investitionsquote der Pharmabranche mit einem Anteil von zuletzt 36 Prozent fast an die Werte der Autoindustrie heran.

In Forschung- und Entwicklung investierte die Pharmabranche in Deutschland 2020 knapp acht Milliarden Euro, etwa so viel wie die zweitgrößte deutsche Branche, der Maschinenbau. In der Coronapandemie dürften einige Kennzahlen durch die Entwicklungs- und Produktionsaktivitäten rund um die mRNA-Impfstoffe noch gestiegen sein.

Die Diskussion, ob der Standort Deutschland für die Pharmabranche noch attraktiv genug ist, hat zuletzt neue Nahrung bekommen. Im Januar kündigte das Mainzer Unternehmen Biontech eine mehrjährige Forschungskooperation mit der britischen Regierung an, um personalisierte mRNA-Krebsimmuntherapien und Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten zu entwickeln.

Großbritannien lockt Pharmaunternehmen mit digitalisierten Gesundheitsdaten

Zwar investiert Biontech auch weiter kräftig in seine Standorte in Mainz und Marburg. Aber die Entscheidung für den Aufbau der Krebsforschung fiel bewusst auf Großbritannien, weil dort die entsprechenden Gesundheitsdaten zur Verfügung stehen. Nationaler Gesundheitsdienst, akademische Forschungseinrichtungen, Aufsichtsbehörden und Privatsektor arbeiteten so gut zusammen, dass Arzneimittel schneller zugelassen werden könnten, so die Begründung.

Der Bayer-Konzern wiederum kündigte Anfang März an, eine Milliarde Dollar in den weiteren Aufbau von Forschung und Entwicklung in den USA zu stecken. Das Unternehmen will in dem weltweit größten und margenstärksten Pharmamarkt der Welt seinen Umsatz bis zum Ende der Dekade verdoppeln. Aktuell macht Bayer rund 25 Prozent seines Pharmaumsatzes von zuletzt rund 19 Milliarden Euro in den USA, in der Region Europa, Nahost und Afrika sind es rund 39 Prozent.

Auch Novartis hatte eine „Amerika first“-Strategie beschlossen. „Wir sind in den USA unterrepräsentiert“, sagte Novartis-Pharmachefin Marie-France Tschudin dem Handelsblatt. In Europa sei man nach Umsatz der größte Pharmakonzern. In den USA stehe Novartis nur auf Rang zwölf. Mittelfristig wolle man in die Top fünf aufrücken. Denn den größten Teil der Gewinne erzielen die globalen Pharmakonzerne im US-Markt.

Insgesamt verdienen die globalen Player gut: Die weltweit zehn größten Firmen der Pharmabranche konnten im vergangenen wirtschaftlich schwierigen Jahr eine gleichbleibende Nettorendite von 22 Prozent erwirtschaften.

Allerdings gehen immer mehr Branchenexperten davon aus, dass die Profitabilität der Branche in den nächsten Jahren unter Druck gerät. Nicht nur wegen staatlicher Regulierung, sondern auch weil es immer mehr Entwicklungsprojekte für Medikamente gibt. Neue auf dem Markt zugelassene Therapien sind nicht lange allein auf dem Feld, und mit neuen Wettbewerbern sinken die Preise.

Das liegt am intensiven globalen Wettbewerb. Neben den USA wächst vor allem die Zahl der Studien in China rasant. Bei den innovativen Gen- und Zelltherapien, dem großen Zukunftsthema der Branche, werden derzeit 43 Prozent der Studien in den USA durchgeführt, 38 Prozent im asiatisch-pazifischen Raum und nur 18 Prozent in Europa, zeigt eine Auswertung des Branchenverbands Alliance for Regenerative Medicines.

Bayer kritisiert EU-Pläne zum Patentschutz

Neue Einschränkungen für die Refinanzierung von Innovation könnten seitens der EU hinzukommen. Die EU-Kommission ist gerade dabei, ihre neue Pharmastrategie für Europa festzuzurren, um die Medikamentenversorgung zukunfts- und krisensicherer zu machen. Ziel ist es, Medikamente für alle EU-Bürger zugänglicher und erschwinglicher zu machen – nicht nur für Menschen in reichen Mitgliedstaaten.

Nach den bisher durchgesickerten Plänen könnte etwa der Patentschutz bei bestimmten Medikamenten von zehn auf sechs Jahre abgesenkt werden soll, damit günstigere Nachahmerprodukte schneller auf den Markt kommen. Für die innovative Pharmabranche bleibt damit auch weniger Zeit, ihre Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen zurückzuverdienen.

Bayer-Manager Oelrich findet solche Pläne besorgniserregend und kontraproduktiv: „Denn sobald der Schutz geistigen Eigentums eingeschränkt wird, sinkt der Anreiz, in Forschung zu investieren. Das wiederum verschlechtert die allgemeine Versorgung in Europa und verstärkt unsere Abhängigkeit von anderen Märkten“, sagt er.

Pharmabranche sorgt sich um Deindustrialisierung

Noch gilt Deutschland als attraktiver Standort für die Pharmabranche. Die Grundlagen- und medizinische Forschung gilt als sehr gut, die vielen produzierenden Unternehmen haben ihre Funktions- und Kooperationsfähigkeit bei der Produktion der Covid-19-Impfstoffe unter Beweis gestellt, auch gibt es viele gute Fachkräfte.

Aber die große Sorge, die die Pharmamanager umtreibt, ist, dass es zu einer schleichenden Deindustrialisierung kommt. Roche-Deutschlandchef Pfundner: „Wenn wir die Technologieführerschaft in der Biotechnologie nicht behalten, dann werden andere die Wertschöpfung erzielen. Die werden dann allerdings auch die Bedingungen dafür bestimmen.“

Mitteilung des "Handelsblatt" vom 22.03.2023