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Durch kognitives Teaming zur menschzentrierten Industrie 4.0

19.05.2023
Forscherinnen am Fraunhofer-IWU sind sicher: Wenn aus dem Nebeneinanderher von Mensch und Technik ein echtes Miteinander wird, können produzierende Unternehmen noch wesentlich effizienter werden.

Am Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU will man folgende Fragen beantworten: Wie arbeiten Menschen mit Maschinen zusammen? Wie können digitale Helfer Mitarbeiter in der Fabrik unterstützen, ohne sie durch ihre Komplexität zu überfordern? Wie kann eine von den Bedürfnissen und Stärken des Menschen her gedachte Technik helfen, die eigene Kreativität in Wertschöpfung umzusetzen, oder einen Beitrag leisten, wertvolles Erfahrungswissen älterer Mitarbeitender zu sichern und diese für innovative Produktionstechnik zu begeistern? Dr. habil. Franziska Bocklisch und ihre neue Gruppe „Kognitives Teaming von Mensch und cyberphysischen Produktionssystemen“ schicken sich an, die richtigen Antworten zu finden.

Kognitionspsychologische Analysen sollen Produktionstechnik voranbringen

Mit Franziska Bocklisch stärkt sich das IWU auf einem Fachgebiet, das für ein produktionstechnisches Institut auf den ersten Blick ungewöhnlich ist – der Kognitionspsychologie. Diese beschäftigt sich mit Aspekten menschlichen Denkens und Verhaltens, wie zum Beispiel mit Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Entscheiden. Die Disziplin erforscht, wie sensorische Informationen verarbeitet und zu Wissenseinheiten werden. Aber auch, wie dieses Expertenwissen die Interpretation von Informationen und spätere Entscheidungen beeinflusst. Kognitionspsychologie geht aber auch der Frage nach, wie der Mensch komplexe Probleme mithilfe kreativer Strategien löst und Komplexität sinnvoll reduzieren kann. Eine vermeintliche Schwäche des Menschen bei drohender Überforderung ist dabei tatsächlich eine große Stärke – er reflektiert die Situation, stellt sie in einen größeren Zusammenhang und greift auf Erfahrungswissen zurück. Er fragt sich dabei, was ihm einst in einer vergleichbaren, früheren Situation geholfen hat, um eine auf den ersten Blick kaum lösbare Aufgabenstellung doch noch erfolgreich zu bewältigen. Ein wichtiger Anwendungsbereich der so gewonnenen Erkenntnisse zielt nun auf die moderne Produktionstechnik ab. Wie das Zusammenspiel von Mensch und Technik künftig noch wertschöpfender gestaltet werden kann, ist dazu ein Schwerpunkt der neuen Arbeitsgruppe am IWU.

Menschen und technische Systeme coachen sich in Zukunft gegenseitig

Viele Innovationen in den Bereichen Robotik, Künstlicher Intelligenz (KI), Data Analytics oder in Sachen Visualisierungstechnik prägen die moderne industrielle Produktion (Industrie 4.0), heißt es weiter. Die KI ist präzise und wiederholgenau. Und aufgrund einer beeindruckenden Rechenleistung kann sie heute auch mit riesigen Datenmengen sinnvoll umgehen. Gleichzeitig haben leistungsfähige Assistenzsysteme die Komplexität menschlicher Arbeit in der Produktion mitunter sogar erhöht. Der Anspruch, dass Technik den Menschen optimal unterstützen und ihm mehr Freiraum für wertschöpfendere Kreativität schafft, ist also noch nicht vollständig eingelöst, merken die Forscher an.

Das neue Team am Fraunhofer IWU setze zwar weiterhin auf die Kombination der jeweiligen Stärken von Mensch und Technik (Komplementarität), betone jedoch den Team-Gedanken, weil er die Voraussetzung für einen weiteren Qualitätsschhub in der Zusammenarbeit sei.

Zwei wesentliche Kennzeichen von Teamarbeit sind bekanntlich geteiltes Wissen, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Leicht verständliche KI-Algorithmen, die zur Struktur des menschlichen Fachwissens und der Vorgehensweise von Experten in einem bestimmten Fachgebiet passen, könnten dann zu echten „Cyber-Gehilfen“ werden. In einer Art wechselseitigem Coaching „sagt“ die Technik dann dem Menschen, wie sich eine Aufgabe noch besser lösen lässt. Das kann etwa durch den Rückgriff auf gut strukturierte, relevante Daten, die ein Assistenzsystem bereitstellt, funktionieren. Umgekehrt könnten Mitarbeiter beispielsweise eine KI-Lösung, die noch nicht alle Entscheidungsoptionen kennt, stabiler machen. Und zwar wenn sie ihre Funktionsweise verstehen und geeignete Entscheidungsgrundlagen erstellen, welche die KI in einer neuen Trainingsschleife wissens- und datenbasiert „erlernt“.

Die Technik sollte von der Seite des Menschen her gedacht werden

Nehme man den Anspruch ernst, Assistenzsysteme vom Menschen her zu denken, dürfe die Kernfrage nicht lauten, was technisch möglich sei, sondern was könne der Mensch gut verarbeiten und welche Möglichkeit bietet ihm eine tatsächliche Hilfestellung. Um auf das Beispiel KI zurückzukommen, sieht es so aus, dass bei großen Stückzahlen der Einrichtungs- und Anpassungsaufwand von KI-Systemen in einem angemessenen Verhältnis zur Unterstützungsleistung für Mitarbeiter stehen. Wechseln die Produkte aber häufig, ist der Wartungsaufwand im Vergleich zur hohen Stückzahl logischerweise sehr hoch. Mitunter zu hoch! Etwa wenn zusätzlich eine Rückfalllösung für den Systemausfall benötigt wird. Erfahrene Entscheider und Anwender wissen deshalb, dass auch eine noch so gute KI nicht fehlerfrei arbeitet. Doch wer ihre Funktionsweise versteht, kann sie umso nutzbringender einsetzen, betonen die IWU-Forscher.

Zu komplexe Systeme hemmen das Einlernen von Mitarbeitern

Zu komplexe System machen es neuen Mitarbeitern schwer, sich einzuarbeiten, heißt es. Sinnvoll entwickelt und eingesetzt, unterstützten „intelligente“ Systeme aber bei der Sicherung von Kompetenzen und dem Transfer von Erfahrungswissen. Vielversprechend sind beispielsweise erste Forschungsergebnisse zur Beobachtung von Fertigungsprozessen durch erfahrene Mitarbeiter, merken die Forscher an. Die Auswertung ermöglicht das gezielte Nachfragen und damit Prozessbeschreibungen in einer viel höheren Qualität. Das gelte speziell dann, wenn es darum gehe, eben neuen Mitarbeitern zu vermitteln, worauf es bei ihrer Aufgabe am meisten ankomme.

Am IWU hat man dazu das Rollformen per Roboter, einen für kleine Stückzahlen geeigneten, mehrstufigen (inkrementellen) Umformprozess von Blechen, beobachtet. Letztlich wurde diese Art des Rollformens systematisch auf verschiedenen Ebenen beschrieben. Ein Eye-Tracker folgte dabei den Blicken der technischen Experten und übertrug sie auf ein Tablet, wie das Bild zeigt. Eine Aufzeichnung und Detailauswertung der menschlichen Blickdaten ermöglichte dann ein gezieltes Nachfragen: aus welchen Gründen wurde ein jeweiliger Prozessabschnitt ausgeführt und warum erfuhren bestimmte Aspekte (besondere) Aufmerksamkeit. Dieses Vorgehen liefert nach Aussage der Wissenschaftler wichtige Ansatzpunkte, um kognitive Assistenzsysteme und zielführende Automatisierungssysteme zu entwickeln.

Menschliche Entscheidungen werden durch KI ergänzt

In einem weiteren Forschungsprojekt an der TU Chemnitz untersuchte die Forschungsgruppe „Human Cyber Physical Systems“, wie Mensch und KI in einem thermischen Beschichtungsprozess gemeinsame Ziele erreichen und geteiltes Wissen erlangen können. So soll die Oberflächenqualität bei möglichst geringem Materialverbrauch dennoch hochwertig werden. Die zahlreichen Einstellmöglichkeiten einer komplexen Anlage dafür und die vielfältigen Qualitätsziele, die sich manchmal auch widersprechen, modellierte das Team, wie es heißt, im Einklang mit menschlichem Fachwissen. Der menschliche Entscheidungsprozess werde dabei berücksichtigt, passgenau ergänzt und nicht ersetzt. Weil die KI-Modellierung komplexe Muster in den hoch aufgelösten, technischen Prozessdaten für den Menschen gut verständlich zur Verfügung stellen könne, sei bereits der erste wesentliche Schritt in Richtung Teambildung zwischen Mensch und System gelungen.

Cyberphysische Systeme an die kognitiven Fähigkeiten des Menschen anpassen

Es ist wichtig, den Teaming-Gedanken für eine besseres Miteinander von Mensch und Technik breit zu verankern. In der betrieblichen Praxis steht nur selten kognitionspychologische Expertise zur Verfügung – das muss auch nicht sein, wenn Wissenschaft und Industrie transdisziplinär und institutionsübergreifend zusammenarbeiten und beispielsweise bereits Studierende sensibilisiert werden, Technik stärker aus der Perspektive des Menschen zu gestalten. Das Fraunhofer IWU und die Fakultät für Maschinenbau an der TU Chemnitz arbeiten seit vielen Jahren erfolgreich in zahlreichen Forschungsprojekten zusammen. Im Sinne einer vertieften Kooperation leitet Franziska Bocklisch weiterhin an der Professur Werkstoff- und Oberflächentechnik die Gruppe „Human Cyber Physical Systems“ und trägt dort zur Profillinie “Human-Machine-Teaming“ der Fakultät für Maschinenbau bei.

Ein „echtes“ Teaming von Mensch und Produktionssystemen in Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung voranzutreiben und Studierende bestmöglich auf dieses Arbeitsfeld vorzubereiten, ist gemeinsamer Ansporn beider Forschungseinrichtungen. Bocklisch abschließend: „In der technischen Entwicklung und auch in der betrieblichen Umsetzung sollte der Mensch mit seiner Expertise und seinen Bedürfnissen im Vordergrund stehen. Unser Ansatz ist es, cyberphysische Systeme an die kognitiven Fähigkeiten des Menschen anzupassen – und nicht umgekehrt“.

Quelle: Pressemitteilung Fraunhofer IWU In: blechnet vom 19.05.2023